Tag 8
04.11.2019
Eine kleine Wanderung
Die Rennen liegen hinter uns. Keine sportlichen Verpflichtungen die unseren Aktivitäten einschränken würden, liegen mehr vor uns. Wir haben noch zwei (fast) volle Tage vor uns, um uns ein paar Ecken von Hongkong anzuschauen, die wir bislang nicht gesehen haben.
Möglichst lange ausschlafen! Das war der Plan heute morgen. Wir mussten das aber ein bisschen einschränken, denn das Frühstücksbuffet im Hotel wollten wir dann deswegen doch nicht verpassen. Als wir langsam wach werden und unseren Körper spüren, merken wir, dass wir gestern einen sehr anstrengenden Tag hatten. Die 24 Minuten des Finallaufes stecken uns wortwörtlich noch in den Knochen. Die Schultern, die Beine, die Hüfte – alles tut immer noch weh. Des Steuermannes Stimme ist auch noch nicht ganz aufgewacht. Wir sehen wahrscheinlich ein kleines bisschen mitgenommen aus.
Draußen hat sich zu gestern gar nichts verändert. Es ist genauso heiß, genauso feucht und genauso wenig bewölkt wie gestern. Hier, inmitten der hohen Häuser, ist es sogar noch weniger erträglich. Die Hitze staut sich und die Autos und Busse tragen mit ihrer Motorabwärme einen entscheidenen Beitrag zu der erbärmlichen Luftqualität. Wir sollten dem ganzen am Besten ein bisschen entfliehen. Das machen wir mithilfe Hongkongs Touristenattraktion Nummer 1. In der Tat, egal welchen Reiseführer wir aufschlagen, welche Top-10 Listen uns To-Do’s empfiehlt, ganz oben steht immer der gleiche Ort: Victoria Peak. Das ist der höchste Berg auf Hong Kong Island und eine bekannte Aussichtsplattform über der Stadt. Wir hatten bislang aufgrund unserer sportlichen Verpflichtungen keine Zeit, um uns diesen Punkt der „Bucketlist“ anzuschauen.
Insgesamt ist der Berg etwa 550 m hoch, jedoch nicht bis zu seinem höchsten Punkt öffentlich betretbar. Bis zu dem touristischen Hot-Spot auf 380 m Höhe bringt uns eine Standseilbahn, die Peak Tram. Man hat dort zwei Straßenbahn an Stahlseile gehängt und zieht sie Steigungen über 45° hinauf! Im Mittelteil ist es so steil, dass man fast auf seinem Sitz ins Liegen kommt. Und dann sind theoretisch auch noch Stehplätze in der Tram ausgeschildert! Unmöglich, wie soll man da nicht den Boden unter den Füßen verlieren?
Die Endstation der Tram ist ein riesiges und total überflüssiges Einkaufszentrum. Wir landen durch einen Ausgang in einem Laden, welcher die billigsten und kitschigsten Souveniers verkaufen möchte, die man auf gar keinen Fall haben möchte. Alles ist bunt und glitzert. Die chinesischen Glückskatzen sind hier natürlich auch mit von der Partie – sie bevölkern ganze Regale. Nein, danke. Wir brauchen ganz schnell einen Ausgang aus dieser Ramschhölle.
An Läden wie diesem erkennt man die touristische Auslegung des Victoria Peak. Allerdings scheint sie für deutlich mehr Menschen ausgelegt zu sein. Als wir oben ankommen, ist es relativ leer. Überhaupt hatten wir bislang das Gefühl, die einzigen Touristen auf der Straße zu sein. Die aktuelle politische Situation hat offensichtlich eine Menge potentielle Urlauber aus dieser Stadt verschreckt. Das freut uns natürlich in diesem Moment persönlich etwas: Mehr Platz für uns! Um den restlichen Menschen zu entfliehen, fangen wir an, den Berg ein bisschen weiter hinauf zu wandern. Wir sind auf der Suche nach einem schönen, weniger frequentierten Aussichtspunkt. Es ist dabei ganz einfach, den meisten Touristen zu entkommen. Ein paar Minuten wandern und optimalerweise die steilereren Wege nehmen die einem zur Verfügung stehen.
Schon bald erreichen wir mit dieser Strategie die Victoria Gardens. Eine Parkanlage um den Peak herum mit gut ausgebauten Wanderwegen. Hier ist nicht mehr viel los. Als wir das erste Mal eine freie Sicht haben, erblicken wir die Rückseite von Hong Kong Island – den Süden. Auch hier stehen einige dieser typisch schmalen, hohen, wenig ästhetischen Hochhäuser in Ufernähe wo das Terrain noch nicht zu steil ist, um Häuser zu bauen (Überhaupt ist Hongkong flächenmäßig gar nicht stark bebaut. Das Terrain gibt das einfach nicht her. Stattdessen baut man hier auf geringer Grundfläche in die Höhe um den Raumbedarf zu decken). Dahinter erstreckt sich die nächste Insel, schon im Dunst der feuchten Luft liegend: Lama Island mit einem auffälligen und absurd hässlichem Kraftwerk inklusive vier hohen Schornsteinen die ihren ganz eigenen Charme in die ansonsten so schöne Landschaft der Insel bringen. In der Meerenge dazwischen sind alle möglichen Wasserfahrzeuge unterwegs. Fähren, kleine Frachter, Sportboote, Containerschiffe und Massengutfrachter. Und dann zählen wir auf der Stelle drei gigantische Containerfrachter die in der Lage sind, mindestens 8.000 bis 10.000 Container zu transportierten.
Vor uns entdecken wir Menschen auf einem weiteren Gipfel. Ein Blick auf unsere Karte verrät, dass der Weg dorthin gar nicht so weit ist. Wir müssen nur etwa 100 m absteigen, um danach wieder 100 m aufzusteigen. Warum nicht? So gelangen auf einen Pfad, der uns durch das Dickicht der Inselbewaldung führt. Hier stoßen wir wieder auf Pflanzen die wir höchsten im Gewächshaus des Botanischen Gartens schon mal gesehen haben könnten. Jede Pflanze hat viel größere Blätter, das Grün ist sehr dunkel. Hier und da wachsen palmenartige Pflanzen und der Rest wird durch Gräser aufgefüllt. In der Luft zeigt sich uns ein ganz anderes Spektakel. Denn sie ist erfüllt von Schmetterlingen die hektisch um uns herum fliegen. Sie kommen in allen Farben. Ein helles Gelb oder ein tiefes Schwarz. Ein einfarbiges, leuchtendes blau oder ein kompliziertes Muster in Orange das an einen Perserteppich erinnert. Schmetterlinge in der größe eines heimischen Zitronenfalters oder Schmetterlinge in der Größe einer Handfläche. Bloß für ein Foto wollen sie nicht still halten.
High West ist der Name des Aussichtsberges den wir uns vorgenommen haben. Der Weg dorthin ist zum größten Teil aus Stufen gebaut. Alle 200 Stufen steht ein kleines Schild am Wegesrand, das uns ansagt, wie viel wir schon von unserem Aufstieg geschafft haben. Motivierend! Die Vegetation ist auf dem Weg zu dicht, um schon etwas zu sehen, erst als wir oben auf einer kleinen Aussichtsplattform stehen, haben wir einen wunderschönen Blick auf Lama Island, Lantau Island (eine große Insel hinter der der Flughafen von Hongkong gelegen ist), die Hafenanlage der Stadt aus der gerade ein weiteres gigantisches Containerschiff heraus fährt und sich auf die Reise macht sowie die westlichen Gebiete von Hongkong und Kowloon. Im Prinzip schauen wir dort auf ein großes Tal zwischen zwei Bergketten. Die Meerenge von Victoria Harbour in der Mitte, auf beiden Seiten durch dichteste Botanik begrünt. Doch an ihren Ufern explodiert die Stadt in die Höhe. Wie ein Wald aus dünnen, hellen Häusern. Jedes einzelne vermutlich höher als jedes Gebäude in Kiel. Dazwischen schießen die richtig hohen Wolkenkratzer in die Höhe. Die Bankgebäude versuchen sich alle gegenseitig zu übertreffen. Einigen gelingt das eher, wie dem Bank of China Tower mit seiner ausgerwöhnlichen Architektur voller Dreiecke oder dem International Finance Centre, dessen Spitze gerade so bis in unsere aktuelle Höhe reicht. Andere, wie der Bank of America Tower geht hier genauso unter wie die St. Patricks Church, eine Kirche aus der Kolonialzeit die zwar architektonisch ansprechend ist, aber fast nicht mehr zu sehen ist, solange man nicht direkt davor steht.
Den Rückweg zur Tram-Station zeigt uns eine kleine einspurige Straße die hauptsächlich für die Bewohner der exklusiven und tief in der Vegetation versteckten Anwesen gebaut wurde aber auch als einfacher Rundwanderweg ausgeschildert ist. Zwischen den Bäumen und Palmen gibt es auch hier immer wieder Lücken die uns neue Blicke auf den Osten Hongkong eröffnen. Auf unseren Rennkurs von gestern, auf die Lücke in der Bebauung von der wir wissen, dass sie die Trabrennbahn vor unserem Hotel beheimatet, auf die Überreste des alten Flughafens Kai Tak in der Ferne und auf die Bergketten dahinter denen wieder jegliche Bebauung fehlt.
Der Rückweg führt uns wieder mit der Peak Tram den Berg herunter. Dieses Mal müssen wir rückwärts fahren. Ansonsten würde man auch vom Sitz nach vorne fallen. In Windeseile stehen wir wieder auf dem untersten Level der riesigen Häuser und können maximal bis zur nächsten Straßenseite weit gucken, wenn nicht gerade einer der großen Doppeldeckerbusse an uns vorbei fährt. Und wir fühlen uns wieder ganz klein.