Tag 7

Der Tag der Entscheidung! Heute findet das Rennen statt, auf das wir uns seit Wochen vorbereiten. Wir haben explizit auf den sechs Kilometer Kurs des A-Finales hin trainiert. Allerdings auf den doch etwas ruhigeren Bedingungen der Kieler Förde in einem anderen Boot und nicht in dem Wasser des Victoria Harbour das hier gerne mit einer „Waschmaschine“ verglichen wird.

Das A-Finale im gesteuerten Männer-Doppelvierer wird erst am Nachmittag als vorletztes Rennen ausgetragen. Das freut uns, da wir vor diesem Rennen nicht auf unser Frühstück verzichten müssen. Mit viel Zeit können wir uns auf den Weg zur Strecke machen. Heute ist es besonders heiß. Es gibt kaum Wolken am Himmel. Sobald wir die Häuserschluchten von Causeway Bay verlassen haben und neben Schnellstraßen (auf denen aber immer Stau ist, also nix mit „Schnell“-Straße) den Weg zum Royal Hong Kong Yacht Club einschlagen, gibt es keinen Schatten mehr, der uns vor der Sonne schützen kann. Das wird später eine zusätzliche Herausforderung auf dem Wasser. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei über 67%. Gar kein Vergleich zu den windigen 12 – 14 Grad Bedingungen bei denen wir in mehreren Lagen Langarmshirts auf der Förde trainiert haben.

Vor uns finden noch A-Finals in den Klassen der Einer und Doppelzweier der Männer und Frauen sowie des gesteuerten Frauen-Doppelvierers statt. Auf der Dachterrasse des Yacht Clubs (eine von so vielen Terassen, wir haben aufgehört sie zu zählen) ist eine Videoleinwand aufgestellt. Von dort werden die besten Bilder vom Kurs übertragen. Mehrere feste Kameras an Land, ein Kameraboot auf dem Wasser und eine Drohne übertragen die spektakulären Bilder der Medaillenkämpfe. Es gibt diverse Kollisionen und Positionswechsel. Wir verfolgen wahrscheinlich gerade die spannensten Coastal-Rowing Rennen bisher. Die Planungen der Organisatoren sind aufgegangen: der Kurs ist schwierig und bietet eine Menge Action. Nur beruhigt das unsere Nerven nicht wirklich.

Etwa zwei Stunden vor dem Rennen beginnt die gleiche Prozedur wie gestern. Registrieren, auf dem Plan das Boot suchen, das uns zugeteilt wird, den Steuermann auf die Waage schicken, jede Menge Schrauben verstellen und Aufkleber am Bug aufbringen. Die weißen Shirts mit dem Deutschlandadler auf der einen Schulter und der EKRC-Flagge auf der anderen anziehen. In den Einteiler steigen den drei dezent schwarz-rot-goldene Streifen sowie unser Namenszug auf der Vorderseite und die Buchstaben „GER“ auf der Rückseite in regelkonformer Arial schmückt. Und schließlich eine Menge Sonnencreme auftragen.

Es folgt eine letzte Rennbesprechung. Hier geht es um die Strategie über das Rennen. Gestern waren wir auf den ersten beiden Streckenabschnitten bis zur zweiten Boje ein bisschen zu langsam, insbesondere in der Schlagzahl. Das muss heute anders werden. Wir brauchen mehr Rythmus, weniger Gehacke mit den Skulls im Wasser. Je flüssiger der Schlag, desto höher die Geschwindigkeit. Sagt sich so einfach, oder? Eine klassische Einteilung in Startphase, Renn- oder Streckenschlag und Endspurt gibt es hier nicht. Es gibt nur Start und los. Jeder Druck, der nach den Startschlägen wieder vom Blatt genommen würde, kostet uns Positionen. Im Prinzip stehen wir kurz vor einem 6 km Sprintrennen. Dann noch ein paar Bojen besprechen. An welchen braucht der Steuermann die Hilfe der Mannschaft, welche sind so flach im Winkel, dass die Kurskorrektur kaum merkbar ist? Und wie wollen wir die Zwischenspurts fahren (Ja, das sind Abschnitte in denen Druck und Schlagzahl nochmal steigen muss)? Wir haben in den bereits gelaufenen Finals schon gesehen, was alle passieren kann. Zwei Minuten Zeitstrafe für den ersten. Kollisionen bei den Verfolgern und plötzlich offenes Wasser für den aktuell Viert- oder Fünftplatzierten. Wir müssen also mit allem rechnen und durchgängig „drauf“ bleiben.

An der Rampe lassen wir das Boot wieder zu Wasser. In letzter Sekunde müssen wir noch einen Skull austauschen, weil uns irgendwie der falsche zugeteilt wurde. Der neue ist natürlich noch nicht eingestellt. Wir werden ein paar Minuten aufgehalten, aber sind dennoch früh genug auf dem Wasser um unser Warmfahrprogramm vollständig zu absolvieren. Die Anspannung ist auf den ersten Schlägen im Kreisel merklich. Der Schlag ist sehr verkrampft. Erst mit dem dritten und vierten Frequenzzehner, bei dem wir Druck und Schlagzahl aus dem Trainingsschlag auf die Rennsituation steigern, kommt der bekannt Rythmus wieder ins Boot. 9 Minuten vor der Startzeit legen wir uns weit hinter das Starterboot, hinter alle anderen Boote. Jetzt beginnen die gleichen Taktispielereien wie im gestrigen Vorlauf. Wo ist Platz? Wie weit ist die Startlinie weg?

Zwei Minuten vor dem Start finden wir eine Lücke, die gerade groß genug ist. Für 16 Boote ist die Startlinie sehr eng. Wir wollen auf gar keinen Fall aus zweiter Reihe starten. Wir schwimmen stattdessen neben Hongkong 1 auf unserer Steuerbordseite und Italien 1 auf unserer Backbordseite ein. Das war wahrscheinlich gar nicht verkehrt. Von den Italienern wissen wir, dass sie sehr schnell sind und sich vermutlich zuügig an die Spitze setzen werden. Das würde uns Platz auf unserer Backbordseite geben.

Und dann kommt das Startsignal. Wasser spritz auf allen Seiten auf, als 128 Blätter im gleichen Moment versuchen die 16 Boote zu beschleunigen, 16 Steuerleute fangen gleichzeitig an, ihre Mannschaft in den Startschlägen zu begleiten. Die Startsequenz koordinieren. Erst ein paar kurze Schläge, dann die Länge der vollen Rollbahn aufbauen und weiter anschieben. Es sind teilweise nur wenige Zentimeter bis zu den Blättern der anderen Boote. Von außen muss das alles sehr chaotisch wirken. Direkt nach dem Start bilden sich schnell zwei Gruppen, nur durch wenig Wasser getrennt. Wir liegen direkt dazwischen an Position 8 oder 9. Direkt neben uns Großbritannien 1 und 2, auf der anderen Seite Hongkong 1. Vor uns Griechenland und die Favoritengruppe aus den beiden italienischen Booten, Monaco, Spanien. Alle Boote sind sehr eng zusammen. Die erste Boje passieren wir noch auf Platz 8. Dann können wir an Griechenland vorbeiziehen. Das läuft schon mal deutlich besser als im Vorlauf, wo wir ihnen den Vortritt lassen mussten. Auch Großbritannien 2 und Hongkong 1 können wir abschütteln. Wir fahren auf Position 5 vor. Nur Großbritannien 1 liegt uns wortwörtlich direkt im Heck. Das soll ab hier einige Zeit so bleiben. Wir fahren durch den Zickzackkurs und können die Bojen eng nehmen, da wir vorne liegen. Immer wieder berühren sich unser Heck und der britische Bug.

Im A-Finale müssen wir die Runde in der Bucht vor den Central Piers gleich zweimal fahren. An der Wendemarke 6, an der wir in die zweite Runde einbiegen, fährt Hongkong den Briten ins Heck und beide Boote werden weit vom Kurs abgetrieben. Zum ersten Mal haben wir wirklich Luft gewonnen. Dadurch fehlt allerding auch ein bisschen die Motivation des direkten Duells. Nach vorne ist jetzt schon mehr Wasser. 4 Favoriten fahren die Medaillenplätze unter sich aus. Italien 1 und 2, Monaco und Spanien. Der Abstand von uns auf die Spitze ist zu diesem Zeitpunkt jedoch deutlich geringer als im gleichen Rennen in Vorjahr. Insgesamt ist das Feld immer noch relativ eng.

Nach der zweiten Durchfahrt des Zickzacks müssen wir ansehen, wie Großbritannien 1 die Lücke wieder geschlossen hat und mit einem kraftvollen Spurt in nur 20 Schlägen an uns vorbei zieht. Das verdient unseren absoluten Respekt, wir sind nicht in der Lage diese Aktion zu kontern. Die letzte Boje umfahren wir damit wieder als sechstes Boot. Von hier aus sind es nur noch 1,2 km. Das Wasser ist schwierig. Direkt neben uns werden die Wellen von einer Spundwand reflekiert. Die begleitenden Motorboote die etwa 250 m vor uns an der Spitze mitfahren ziehen lange Wellen. Die können wir zwischendurch gut reiten, doch im anschließenden Wellental müssen wir enorm viel Kraft investieren, um die Geschwindigkeit aufrecht zu erhalten. Jetzt ist die Strecke frei, 500 m. Augen zu und durch. Von hinten droht keine Gefahr mehr. Wir passieren das Ziel mit einem sicheren sechsten Platz in 24 Minuten. Unsere beste Zeit bei den bisher schwierigsten Bedingungen.

Unsere Verfasung im Ziel zu beschreiben ist relativ einfach. Wir sind alle. Die ersten Schläge lassen sich noch ohne Schmerzen fahren. Doch nach 300 m protestiert der Körper schon gegen die Belastung. 5700 m müssen wir diesen Protest ignorieren. Warum tut man das? Weil es sich so klasse anfühlt, im A-Finale auf den Weltmeisterschaften im Coastal Rowing als sechstbestes Boot nach einem perfekten Rennen ins Ziel zu kommen. Wir sind total glücklich mit unserem Platz. Die Leistungsdichte ist in diesem Jahr im Vergleich zu den Vorjahren merklich gestiegen – trotzdem konnte wir unsere Platzierung aus Kanada behaupten. Jetzt brauchen wir dringend Wasser. Schnell diesen widerlichen Salzgeschmack des Hafenwassers aus dem Mund bekommen, die Flüssigkeitsspeicher wieder auffüllen und den Kopf wieder abkühlen.

Es dauert eine Weile, bis alle wieder gerade laufen können. Lange duschen, noch mehr trinken, tief durchatmen. Mit der Zeit kommt der Puls wieder runter. Alles was bleibt sind Schmerzen eigentlich überall und eine Müdigkeit die einige von uns noch den Rest des Abends begleiten wird. Dieser sieht nur noch die Afterparty vor. Am World Champ Square in der Innenstadt, direkt vor dem höchsten Gebäude Hong Kong Islands, dem International Finance Centre, werden die Medaillen verliehen, ein paar schließende Worte gesprochen und der Austragungsort der nächsten World Rowing Coastal Championships 2020 bekannt gegegben: Der Strand von Lissabon, Portugal!

Wir haben noch zwei weitere Tage in dieser Stadt, bevor wir wieder nach Deutschland zurück kehren. Morgen früh steht ausschlafen auf dem Programm. Dann wollen wir uns noch das ein oder andere anschauen. Auch davon gibt es natürlich noch ein paar Berichte!